Hans-Gottlob-Ruehle.de
Arbeitsrecht von Hans Gottlob Rühle

 

Hans Gottlob RühleHans Gottlob Rühle,
Richter am Arbeitsgericht Gießen,
Direktor des Arbeitsgerichts Marburg a.D.,
gibt Praxistips rund um das Thema Bewerbung und Arbeitsrecht.

 

Folge 313: Sittenwidrige Vergütung I
- Grenzen der Vertragsfreiheit -

Frage:

Darf der Arbeitgeber die Arbeitsvergütung soweit reduzieren, wie er es möchte, oder wie er es wirtschaftlich für vertretbar hält? Muß ich mir Lohnreduzierungen gefallen lassen oder habe ich bei einer Vollzeitbeschäftigung einen Anspruch auf einen auskömmlichen Lohn?
Diese Fragen stellen sich gerade heute, wo in der Politik um die Einführung eines Mindestlohnes gerungen wird und andererseits die Politik den Verweis auf Gerichte tätigt bzw. ein neues Gesetz gegen sittenwidrige Löhne plant.
Was aber ist ein sittenwidriger Lohn oder eine Wuchervergütung?

Der Fall:

    Der Gemüsehändler Caligula beschäftigt den vormals arbeitslosen Notendekorateur Engelbert Humperdinck als Gemüseschlepper, Fahrer, Marktschreier und Verkäufer. Caligula zahlt volle 4,50 Euro brutto pro Stunde. Der mit 40 Wochenstunden vollzeitbeschäftigte Humperdinck erreicht somit einen Monatslohn von 780 Euro brutto.
    Die Friseursaloninhaberin Maria Montessori beschäftigt die gelernte Friseurin Alma Mahler-Werfel. Sie zahlt ihr pro Kundin den Satz von 3,50 Euro. Bei regem Kundenandrang erreicht Alma so ein Monatseinkommen von ca. 600 Euro brutto.
    Als beide Mitarbeiter sich beschweren, verweist Caligula darauf, daß er sich auch einen Rumänen für 4 Euro die Stunde nehmen könnte. Maria Montessori verweist darauf, daß Alma schließlich noch zusätzlich Trinkgelder von ihren Kundinnen kassiert.

Die Lösung:

1. Aktuelle Problematik

    In immer mehr Branchen sinken die Vergütungen ab. Teilweise wird versucht, das unternehmerische Risiko auf Arbeitnehmer zu übertragen, indem Arbeitnehmer an Verlusten, Risiken, Schäden, ausbleibenden Kundenzahlungen oder an allgemeinen Kosten beteiligt werden.
    Seit geraumer Zeit beschäftigt sich die Rechtsprechung mit der Frage der sittenwidrigen Vergütung. In der Politik ist die Debatte angeheizt worden durch den Streit um die Einführung eines Mindestlohnes. Objektiv stellt sich das Problem, daß in manchen Bereichen mittlerweile keine oder kaum noch auskömmliche Löhne gezahlt werden.
    Besonnene Geister verweisen darauf, daß die Rechtsprechung mit dem bereits bestehenden rechtlichen Instrumentarium Auswüchse im Lohnsektor bekämpft und auch zukünftig bekämpfen kann. Voraussetzung ist allerdings, daß die betroffenen Arbeitnehmer vor das Arbeitsgericht gehen und klagen. Dies ist wiederum für den Bestand des Arbeitsverhältnisses nicht in jedem Falle förderlich.

2. Vertragsfreiheit

    Im gesamten Zivilrecht und damit auch im Arbeitsrecht gilt der Grundsatz der Vertragsfreiheit. Dies bedeutet, daß zunächst Arbeitgeber und Arbeitnehmer die arbeitsvertraglichen Konditionen frei aushandeln können. Dabei handelt es sich nicht nur um den Stundenlohn oder die Monatsvergütung, sondern auch um weitere Konditionen, wie z.B. Gratifikationen, freiwillige Leistungen, Urlaub und Kündigungsfristen. Diese sog. „Privatautonomie“ gilt jedoch nicht schrankenlos. Die schon im Jahre 1900 vom Gesetzgeber mit dem BGB gesetzten Schranken sind mittlerweile im Rahmen des Sozialstaates und der sozialen Marktwirtschaft durch Gesetzgeber und Rechtsprechung immer enger gezogen worden.

3. Grenzen der Vertragsfreiheit

    Die Vertragsfreiheit hatte in unserem Rechtssystem von Anfang an 4 Grenzen, nämlich:
    (1) § 136 BGB Gesetzeswidrigkeit. Verträge dürfen nicht gegen zwingendes Gesetzesrecht verstoßen. So können Verträge nicht das Kündigungsschutzgesetz oder die Steuergesetze außer Kraft setzen oder mißachten. Zu diesen zwingenden Vorschriften zählen im Bereich des Arbeitsrechtes auch teilweise Tarifverträge sowie Betriebsvereinbarungen.
    (2) § 138 BGB Sittenwidrigkeit. Verträge dürfen weder die Grenze zur Sittenwidrigkeit, noch zum Wucher überschreiten. Sittenwidrigkeit bezieht sich dabei nicht nur auf Tatbestände sexueller Art, sondern ist viel weiter gefaßt.
    (3) § 242 BGB Treu und Glauben. Verträge dürfen nicht gegen die Grundsätze von Treu und Glauben verstoßen.
    (4) Objektive Unmöglichkeit. Verträge, die auf einen objektiv unmöglichen Inhalt oder eine objektiv unmögliche Leistung gerichtet sind, sind von Anfang an nichtig, da solche Verträge keinen Sinn ergeben.
    Diese Grenzen der Vertragsfreiheit sind mittlerweile durch die Vorschriften des Grundgesetzes, durch das Rechts- und Sozialstaatsprinzip, durch den aus Artikel 1 GG folgenden Schutz der Menschenwürde, den aus Art. 3 GG folgenden Gleichbehandlungsgrundsatz, durch die in Art. 12 GG garantierte Berufsfreiheit, insbesondere auch durch die aus Art. 14 Abs. 2 GG folgende Sozialbindung des Eigentums weiter eingeschränkt worden.
    Dies bedeutet, daß die Arbeitgeber Caligula und Maria Montessori mit ihren Mitarbeitern nicht einfach vereinbaren können, was sie wollen. Die Vertragsparteien auch im Arbeitsrecht sind an Recht und Gesetz, an ggf. zwingende Tarifverträge und allgemeine Rechtsgrundsätze unseres Sozialstaates gebunden.

4. Interessenkonflikt

    Arbeitgeber unterliegen wegen der zunehmenden Kostenschere, wegen der Folgen der Globalisierung und eines z.T. massiven Preisverfalles, wegen ruinöser Konkurrenz, aber auch wegen einfachem Gewinnstreben der Versuchung oder dem Zwang, die Kostenstruktur in ihrem Unternehmen und damit auch die Vergütungen der Arbeitnehmer soweit wie möglich abzusenken, um konkurrenzfähig zu bleiben.
    Bei diesem Bestreben geraten Arbeitgeber sehr schnell und sehr leicht in Konflikt mit dem Gesetz oder Tarifverträgen bzw. mit den Regeln, die die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung zu Lohnfragen wie auch zur Gestaltung des Arbeitsvertrages ausgeurteilt hat.
    Gleichwohl finden sich niedrige Löhne mittlerweile nicht nur bei Arbeitnehmern, die keinerlei Ausbildung besitzen oder bei Geringqualifizierten. Auch bei Arbeitnehmern mit einer Berufsausbildung finden sich in bestimmten Branchen Löhne, deren Höhe auch in der Politik mittlerweile als problematisch angesehen werden.
    Dazu kommt noch die Tendenz, arbeitslose Bewerber, Berufsanfänger oder Universitätsabsolventen über ein „Praktikum/ein Volontariat/ein Trainee-Programm“ zunächst unentgeltlich zu beschäftigen. Immer mehr auch hochbezahlte Berufsanfänger begnügen sich zunächst mit einem z.T. jahrelangen kaum bezahlten Praktikum in der Hoffnung auf eine Festanstellung.

5. Klage

    Alle diese unterbezahlten oder gar nicht bezahlten Mitarbeiter, die unter den verschiedensten „Etiketten“ in Unternehmen arbeiten, hoffen auf eine Regierungsinitiative, um dem Mißstand Herr zu werden, dem auch sie unterliegen.
    Hier ist jedoch zur Klarstellung zu sagen:
    Der Gesetzgeber kann nur demjenigen helfen, der auch bereit ist, sein Recht vor Gericht einzuklagen. Schon nach geltendem Recht kann bei sittenwidrigen oder gesetzeswidrigen Vergütungen und Vertragsbedingungen mit Aussicht auf Erfolg geklagt werden. Egal welche Lösung sich die Politik einfallen läßt: Auch in Zukunft wird sich nichts daran ändern, daß jeder Vertragspartner, der sich gesetzes- oder Sittenwidrig benachteiligt fühlt, vor Gericht gehen und selbst klagen muß. Diese Arbeit kann niemand anderes für ihn erledigen!

>> Nächste Folge
<< Zurück zur Übersicht

 

Textübernahmen aus den Arbeitsrechtsfolgen von Hans Gottlob Rühle:
Reine
Linkverweise ohne Einschränkung/Begrenzung. Bitte kopieren Sie dazu die URL aus der Browserzeile.
Wörtliche Textzitate: Ohne Rücksprache bis 2 Absätze aus bis zu 10 Folgen jew. mit Linkverweis. Weitergehende Textübernahmen nur mit schriftlicher Genehmigung.
Wichtiger Hinweis: Bitte keine e-mails mit konkreten Rechtsfragen einsenden, da diese nicht beantwortet werden können.
 

Stichwort-Überblick über die Arbeitsrechts-Folgen:

Abmahnung, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Arbeitszeugnis, Assessment-Center, Ausgleichsquittung, Beendigungsvergleich, Befristungsrecht, Berufsschulunterricht, Betriebliche Altersversorgung (Entgeltumwandlung, “Riester-Rente”), Betriebliche Mitarbeiterkontrollen, Betriebsausflug, Bewerbungsgespräch, Bewerbungskosten, Bewerbungsurlaub, Dumpinglöhne/Lohnwucher, Ein-Euro-Job, Einstellungsuntersuchung, Elternzeitgesetz, Ethik-Regeln, Erziehungsurlaub/-geld, Gebetspausen, Gehaltsüberzahlung, Geldbußen-Erstattung, Gentest, Gleichbehandlung: (Bewerberauswahl, Gewerbeordnung (neue Regelung), Lohn, Nichteheliche Lebensverhältnisse, Stellenausschreibung), Hartz IV, Kündigung: (Kündigung - was tun? Alkoholmißbrauch, Unzeit, Kleinbetriebe, Kopftuchtragen, Privattelefonate/SMS, Internetnutzung, Schlechtleistung, Schriftform, Sittenwidrige Vergütung, Sperrzeitprobleme, Wiedereinstellungsanspruch, Diebstahl, Schwangerschaft), Kündigungsrecht 2004 (Neuer Abfindungsanspruch, Sozialauswahl, Klagefrist), Lohngrundsätze, Mobbing, Nebentätigkeitsverbot, Psychologisches Gutachten, Rauchverbot/Nichtraucherschutz, Sperrzeit, Teilzeitarbeit (TzBfG), Schwerbehindertenschutz, Videoüberwachung, Weihnachtsgeld (Rückzahlungspflicht)
  

STARTSEITE >>

Arbeitsrecht
von H.G. Rühle

Übersicht über alle bisher erschienenen Folgen:
Folge 1 - 100
Folge 101 - 200
Folge 201 - 300
Folge 301 ff.

 

Folgenübersicht:

1 - 12:
Freie Bewerberauswahl?
Einstellungsuntersuchung Erkundigungen Bewerbungsurlaub
Bewerbungskosten
Zulässige/unzul. Fragen i. Vorstellungsgespräch

13 - 24:
Psych. Gutachten
Gentest
Assessment Center
Neues Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)

25 - 36:
Forts. Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)
Neues im Erziehungsrecht

37 - 48:
Berufsschule/Freistellung
Dumpinglöhne
Kündigung/soz. Aspekte
Mobbing

49 - 60:
Das Arbeitszeugnis
Zeugnisgrundsätze
Zeugnissprache
Zeugnisbenotung
Zeugnisformulierung

61 - 72:
Kündigung/Kopftuchtragen
Blutuntersuchungen

73 - 84:
Abmahnung
Andere Sanktionen

85 - 96:
Betriebl. Altersversorgung
Betriebsrente
“Riester-Rente”
Entgeltumwandlung

97 - 108:
Forts. “Riester-Rente”
Weihnachtsgratifikation
Kündigung/Schwangersch.
Gebetspausen
Krankheitsvertretung

109 - 120:
Lohngrundsätze I-V
Nebentätigkeitsverbot
Mobbing I-VI

121 - 132:
Kündigung - was tun?
Checkliste

133 - 144:
Kündigung - was tun?
Soll ich klagen?
Wer kann mich beraten?
Wie soll ich klagen?

145 - 156:
Neues Kündigungsrecht 2004

157 - 168:
Neues Kündigungsrecht
Sozialauswahl
Klagefrist
Neuregelung TzBfG

169 - 180:
Hartz IV
Ein-Euro-Job

181-192:
Ein-Euro-Job Forts.
Ausgleichsquittung /
unzulässiger Lohnverzicht

193 - 204:
Betriebsausflug
Elternzeit
Betriebsübergang

205 - 216:
Betriebliche Mitarbeiterkontrollen
Videoüberwachung
Schwerbehindertenschutz

217 - 228:
Neue Gewerbeordnung
Gebetspausen

228 - 240:
Neue Sperrzeitprobleme
Beendigungsvergleich

241 - 252
Ethik-Regeln I-XII

253 - 264
Hitzeregelungen
Internetnutzung (Kündigung)

265 - 276
Nebentätigkeiten
Arbeit auf Abruf

277 - 288
Arbeitslosengeld - Sperrfrist
Neues Elternzeitgesetz / Elterngeld

289 - 300
Arbeitsrechtliche Schwellenwerte
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

301 - 312
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

313 - 323
Sittenwidrige Vergütung

324 - 335
Schutz der behinderten Menschen

336 - 347
Schutz der behinderten Menschen
Annahmeverzug