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Arbeitsrecht von Hans Gottlob Rühle

 

Hans Gottlob RühleHans Gottlob Rühle,
Richter am Arbeitsgericht Gießen,
Direktor des Arbeitsgerichts Marburg a.D.,
gibt Praxistips rund um das Thema Bewerbung und Arbeitsrecht.

 

Folge 161: Neue Sozialauswahl IV

Der Fall:

    Don Giovanni will sein Musiktheater verkleinern. Dies gilt insbesondere für das Ballett und die Zahl der Tänzerinnen. Die Tänzerin Mimi beruft sich zwar auf 2 Kinder, die sie vom Stehgeiger Puccini hat. Die Tänzerin Aida dagegen erklärt Arbeitgeber Don Giovanni, daß sie schwerbehindert sei. Giovanni fragt, was bedeutet Schwerbehinderung im Sinne des Kündigungsschutzes? Die Sängerin Musette ist Mutter und gelenkig. Als sie durch die Betriebsratsvorsitzende Dona Elvira von der drohenden Kündigungswelle hört, entschließt sie sich, gleichwohl einen Antrag auf Anerkennung als Schwerbehinderte beim Versorgungsamt zu stellen. Sie meint, damit schon den Schwerbehindertenschutz zu genießen, auch wenn über den Antrag noch nicht rechtskräftig entschieden ist.
    Don Giovanni rauft sich die letzten verbliebenen grauen Haare.

Die Lösung:

1. Schwerbehinderung

    Der Gesetzgeber hat im Rahmen der Sozialauswahl als neues ausdrücklich zu berücksichtigendes Kriterium Schwerbehinderung des Arbeitnehmers eingeführt. Er hat jedoch diesen Begriff in § 1 Abs. 3 KSchG nicht näher definiert.
    Schwerbehinderte Menschen sind nach dem Sozialgesetzbuch IX bereits in besonderem Maße geschützt. Dies führt auch dazu, daß nach § 85 SGB IX vor Ausspruch der Kündigung bei Schwerbehinderten mit dem Grad der Behinderung von 50 oder Gleichgestellten das Integrationsamt seine Zustimmung erteilen muß. Andernfalls ist die Kündigung wegen fehlender behördlicher Genehmigung rechtsunwirksam.
    Trotz dieses bereits bestehenden besonderen Schutzes lag es dem Gesetzgeber gleichwohl am Herzen, den Schwerbehindertenschutz auch im Rahmen der Sozialauswahl noch einmal zu berücksichtigen.

2. Begriff der Schwerbehinderung

    Der Begriff der Schwerbehinderung in § 1 Abs. 3 KSchG knüpft an § 2 Abs. 2 und Abs. 3 SGB IX an. Danach sind Menschen schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt. Schwerbehinderten Menschen gleichgestellt können behinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50, aber mindestens 30, wenn sie infolge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz nicht erlangen und behalten können. Voraussetzung ist dafür die entsprechende Antragstellung und Anerkennung bei der Bundesagentur für Arbeit.

3. Gleichstellung

    Streitig ist, ob unter dem Begriff der Schwerbehinderung des Arbeitnehmers im Sinne des § 1 Abs. 3 KSchG auch die gleichgestellten nach § 2 Abs. 3 SGB IX fallen. Dabei handelt es sich um behinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50 aber mindestens 30, die einen Antrag bei der Bundesagentur für Arbeit gestellt haben und anerkannt wurden. Der Gesetzgeber hat sich nicht darüber ausgelassen, ob die Gleichgestellten vom Arbeitgeber mitberücksichtigt werden müssen. Richtigerweise ist diese Frage zu bejahen, wenn zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung eine Gleichstellung durch die Bundesagentur für Arbeit bereits erfolgt ist. Nach der Definition des § 2 Abs. 3 SGB IX erfolgt die Gleichstellung gerade wegen der Benachteiligung bei der Suche nach einem Arbeitsplatz durch die Behinderung. Dies entspricht dem Schutzzweck de § 1 Abs. 3 KSchG. Der Schutzzweck kann allerdings nur dann greifen, wenn die Gleichstellung tatsächlich erfolgt ist.
    Es reicht deshalb meines Erachtens nicht aus, wenn zum Zeitpunkt der Kündigung nur der Antrag bei der Bundesanstalt gestellt war, aber noch nicht beschieden worden ist.
    Der Arbeitgeber kann letztlich auch nur das berücksichtigen, was ihm tatsächlich bekannt ist.

4. Kenntnis des Arbeitgebers

    Die gesetzliche Fassung stellt nur auf “die Schwerbehinderung” an sich ab, nicht auf die behördlichen Verfahren und nicht auf die Anerkennung.
    Nach derzeitiger Meinung ist jedoch darauf abzustellen, daß die Schwerbehinderung für den Arbeitgeber auch tatsächlich erkennbar war. Sie ist in der Regel Voraussetzung die tatsächliche entsprechende Anerkennung des Schwerbehinderten mit einem Grad der Behinderung von 50. Liegt eine solche Anerkennung nicht vor, ist im Zweifel der schwerbehinderte Mensch in der Sozialauswahl wegen der Behinderung nicht zusätzlich zu schützen.
    Das gilt auch dann, wenn die Anerkennung der Schwerbehinderung dem Arbeitgeber nicht bekannt ist, weil der behinderte Mitarbeiter dem Arbeitgeber nichts mitgeteilt hat. Es ist vom Arbeitgeber kaum zu verlangen, daß er keine ihm nicht bekannte Schwerbehinderung bei der Sozialauswahl berücksichtigt. Dies würde bedeuten, von ihm Unmögliches zu verlangen. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Arbeitnehmern seine Schwerbehinderung verschweigt. Es darf nicht verkannt werden, daß der Betrieb durch die Beschäftigung von Schwerbehinderten durchaus finanzielle Vorteile zu erwarten hat. Es besteht also ein Interesse des Arbeitgebers an einer Bekanntgabe auch außerhalb der Kündigungsproblematik.
    Dem schwerbehinderten Menschen ist deshalb zu empfehlen, seine Schwerbehinderung dem Arbeitgeber bekanntzugeben.

5. Offenkundige Schwerbehinderung

    Eine Ausnahme von den oben angeführten Grundsätzen liegt nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts dann vor, wenn Schwerbehinderung eines Mitarbeiters zwar behördlich nicht anerkannt, aufgrund der tatsächlichen Umstände diese aber offensichtlich oder dem Arbeitgeber bekannt ist.
    Ist die Schwerbehinderung für den Arbeitgeber nicht zu übersehen, so muß er sie auch ohne behördliche Anerkennung im Rahmen des § 1 Abs. 2 KSchG bei der Sozialauswahl berücksichtigen. Er kann sich hierbei nicht auf Unkenntnis berufen.

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Stichwort-Überblick über die Arbeitsrechts-Folgen:

Abmahnung, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Arbeitszeugnis, Assessment-Center, Ausgleichsquittung, Beendigungsvergleich, Befristungsrecht, Berufsschulunterricht, Betriebliche Altersversorgung (Entgeltumwandlung, “Riester-Rente”), Betriebliche Mitarbeiterkontrollen, Betriebsausflug, Bewerbungsgespräch, Bewerbungskosten, Bewerbungsurlaub, Dumpinglöhne/Lohnwucher, Ein-Euro-Job, Einstellungsuntersuchung, Elternzeitgesetz, Ethik-Regeln, Erziehungsurlaub/-geld, Gebetspausen, Gehaltsüberzahlung, Geldbußen-Erstattung, Gentest, Gleichbehandlung: (Bewerberauswahl, Gewerbeordnung (neue Regelung), Lohn, Nichteheliche Lebensverhältnisse, Stellenausschreibung), Hartz IV, Kündigung: (Kündigung - was tun? Alkoholmißbrauch, Unzeit, Kleinbetriebe, Kopftuchtragen, Privattelefonate/SMS, Internetnutzung, Schlechtleistung, Schriftform, Sittenwidrige Vergütung, Sperrzeitprobleme, Wiedereinstellungsanspruch, Diebstahl, Schwangerschaft), Kündigungsrecht 2004 (Neuer Abfindungsanspruch, Sozialauswahl, Klagefrist), Lohngrundsätze, Mobbing, Nebentätigkeitsverbot, Psychologisches Gutachten, Rauchverbot/Nichtraucherschutz, Sperrzeit, Teilzeitarbeit (TzBfG), Schwerbehindertenschutz, Videoüberwachung, Weihnachtsgeld (Rückzahlungspflicht)
  

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Arbeitsrecht
von H.G. Rühle

Übersicht über alle bisher erschienenen Folgen:
Folge 1 - 100
Folge 101 - 200
Folge 201 - 300
Folge 301 ff.

 

Folgenübersicht:

1 - 12:
Freie Bewerberauswahl?
Einstellungsuntersuchung Erkundigungen Bewerbungsurlaub
Bewerbungskosten
Zulässige/unzul. Fragen i. Vorstellungsgespräch

13 - 24:
Psych. Gutachten
Gentest
Assessment Center
Neues Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)

25 - 36:
Forts. Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)
Neues im Erziehungsrecht

37 - 48:
Berufsschule/Freistellung
Dumpinglöhne
Kündigung/soz. Aspekte
Mobbing

49 - 60:
Das Arbeitszeugnis
Zeugnisgrundsätze
Zeugnissprache
Zeugnisbenotung
Zeugnisformulierung

61 - 72:
Kündigung/Kopftuchtragen
Blutuntersuchungen

73 - 84:
Abmahnung
Andere Sanktionen

85 - 96:
Betriebl. Altersversorgung
Betriebsrente
“Riester-Rente”
Entgeltumwandlung

97 - 108:
Forts. “Riester-Rente”
Weihnachtsgratifikation
Kündigung/Schwangersch.
Gebetspausen
Krankheitsvertretung

109 - 120:
Lohngrundsätze I-V
Nebentätigkeitsverbot
Mobbing I-VI

121 - 132:
Kündigung - was tun?
Checkliste

133 - 144:
Kündigung - was tun?
Soll ich klagen?
Wer kann mich beraten?
Wie soll ich klagen?

145 - 156:
Neues Kündigungsrecht 2004

157 - 168:
Neues Kündigungsrecht
Sozialauswahl
Klagefrist
Neuregelung TzBfG

169 - 180:
Hartz IV
Ein-Euro-Job

181-192:
Ein-Euro-Job Forts.
Ausgleichsquittung /
unzulässiger Lohnverzicht

193 - 204:
Betriebsausflug
Elternzeit
Betriebsübergang

205 - 216:
Betriebliche Mitarbeiterkontrollen
Videoüberwachung
Schwerbehindertenschutz

217 - 228:
Neue Gewerbeordnung
Gebetspausen

228 - 240:
Neue Sperrzeitprobleme
Beendigungsvergleich

241 - 252
Ethik-Regeln I-XII

253 - 264
Hitzeregelungen
Internetnutzung (Kündigung)

265 - 276
Nebentätigkeiten
Arbeit auf Abruf

277 - 288
Arbeitslosengeld - Sperrfrist
Neues Elternzeitgesetz / Elterngeld

289 - 300
Arbeitsrechtliche Schwellenwerte
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

301 - 312
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

313 - 323
Sittenwidrige Vergütung

324 - 335
Schutz der behinderten Menschen

336 - 347
Schutz der behinderten Menschen
Annahmeverzug