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Arbeitsrecht von Hans Gottlob Rühle

 

Hans Gottlob RühleHans Gottlob Rühle,
Richter am Arbeitsgericht Gießen,
Direktor des Arbeitsgerichts Marburg a.D.,
gibt Praxistips rund um das Thema Bewerbung und Arbeitsrecht.

 

Folge 162: Neue Sozialauswahl V

Der Fall:

    Don Giovanni muß seine Belegschaft betriebsbedingt verkleinern. Nach den Sozialdaten müßte er seinen jungen Starkomponisten Mozart kündigen. Den braucht er. Lieber sollen die Zweitkomponisten Mussorgski oder Puccini gehen. Auch die weltberühmte Sopranistin Maria Callas will er nicht im Rahmen der Sozialauswahl verlieren. Die ältliche Dona Clara mit dem leichten Zittern beim Hohen C ist zwar sozial schutzwürdiger, ihr Weggang aber musikalisch besser zu verkraften.
    Hat Don Giovanni Chancen, seine Spitzen zu behalten?

Die Lösung:

1. Wichtige Neuregelung

    Der Gesetzgeber hat zugunsten der Arbeitgeber in der Neuregelung des § 1 Abs. 3 KSchG ab 1.1.2004 die Möglichkeit der Arbeitgeber ausgeweitet, Leistungsträger etc. trotz günstigerer Sozialdaten zu behalten. Der Gesetzgeber hat formuliert:
    “In die soziale Auswahl nach Satz 1 sind Arbeitnehmer nicht einzubeziehen, deren Weiterbeschäftigung insbesondere wegen ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen oder zur Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur des Betriebes im berechtigten betrieblichen Interesse liegt”.
    Hier zeigt sich ein Zielkonflikt zwischen der eigentlichen Sozialauswahl nach Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung einerseits und der Leistungsfähigkeit des Betriebes und des Unternehmens andererseits. In diesem Zielkonflikt hat der Gesetzgeber Partei ergriffen. Er will es dem Arbeitgeber ermöglichen, Leistungsträger aus der Sozialauswahl herauszunehmen und im Betrieb zu belassen.
    Die neue Regelung bedeutet klar und deutlich geringere Anforderungen an die Herausnahme aus der Sozialauswahl, als nach dem bisherigen Gesetzeswortlaut.

2. Betriebliches Interesse

    Ein betriebliches Interesse an bestimmten Arbeitnehmern ist dann anzunehmen, wenn es für den Betrieb in nachvollziehbarer, dokumentierbarer Weise vorteilhaft oder wichtig ist, einen oder mehrere genau bezeichnete Arbeitnehmer unabhängig von dem Ergebnis der Sozialauswahl weiter zu beschäftigen.
    Dabei ist zu beachten, daß diese Herausnahme aus der Sozialauswahl die Ausnahme ist. Nach der Rechtsprechung des BAG ist es nicht möglich, daß der Arbeitgeber z.B. pauschal 30 % der Belegschaft zu Leistungsträgern erklärt und aus der Sozialauswahl ausnimmt. Hier ist das Regel-Ausnahme-Verhältnis gestört.

3. Beispiele

    Bei den vom Gesetzgeber ins Auge gefaßten Leistungsträgern ist an Mitarbeiter zu denken, die selten anfallende Spezialarbeiten durchführen können aufgrund einer besonderen Ausbildung. Ein weiterer Fall wäre die deutlich breitere Einsetzbarkeit von Mitarbeitern oder die deutlich erweiterte Zusatzausbildung in einem bestimmten Berufssegment.
    Der Gesetzgeber hebt sowohl auf besondere Kenntnisse, aber auch besondere Fähigkeiten oder besondere Leistungen ab.
    Dazu zählen auch besondere Führungseigenschaften einiger Arbeitnehmer, die sich vielleicht für zukünftige gehobene Positionen eignen. Schließlich können besondere Leistungen, auch eine besondere Einsatz- und Leistungsfähigkeit von Mitarbeitern von Bedeutung sein.
    Wenn der Arbeitgeber solche Arbeitnehmer aus der Sozialauswahl herausnehmen will, muß er im Zweifel vor Gericht die besondere Qualifikation, die besonderen Fähigkeiten oder Leistungen substantiiert darlegen und beweisen können.
    Achtung: Es reichen Allgemeinplätze dazu nicht aus. Es reicht auch nicht aus, daß ein Mitarbeiter etwas schneller oder etwas besser als der andere Mitarbeiter arbeitet.
    Andererseits will der Gesetzgeber sichern, daß die Leistungsfähigkeit eines Betriebes durch betriebsbedingte Kündigungen nicht geschwächt und damit nicht auch noch andere Arbeitsplätze gefährdet werden, deshalb spricht er vom “berechtigten betrieblichen Interesse”.

4. Sicherung ausgewogener Personalstruktur

    Der Gesetzgeber hat nunmehr anerkannt, daß auch die Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur im Rahmen betriebsbedingter Kündigungen ein berechtigtes Anliegen des Arbeitgebers ist. Damit ist der Arbeitgeber nicht gezwungen, alle jungen Arbeitnehmer zu kündigen und nur die älteren zu behalten. Er kann vielmehr Altersgruppen bilden und innerhalb der Altersgruppen dann die Sozialauswahl treffen mit dem Ziel, an einem Personalabbau alle Arbeitnehmer zu beteiligen.
    Achtung: Der Gesetzgeber hat den Arbeitgeber aber nicht ermächtigt, die Sozialauswahl zur Schaffung einer ausgewogenen Personalstruktur zu durchbrechen. Dies ist nur dem Insolvenzverwalter nach § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Insolvenzordnung gestattet. Der Arbeitgeber darf lediglich die bestehende Personalstruktur und bisherige Leistungsstärke der Belegschaft schützen und aufrecht erhalten. Das ist im Vergleich zur bisherigen Regelung jedoch schon ein deutlicher Schritt, der den Arbeitgeber berechtigt, auch ältere Mitarbeiter zu kündigen. Im Prozeß muß er allerdings alle diese Schritte und Notwendigkeiten stets belegen und beweisen können!

5. Der Fall

    Im Ergebnis bedeutet dies, daß Arbeitgeber Don Giovanni seine Stars und Leistungsträger trotz günstiger Sozialdaten behalten darf. Starkomponist Mozart darf bleiben, Mussorgski oder Puccini müssen gehen, Starsopranistin Callas bleibt, während Dona Clara das Hohe C in einem anderen Etablissement zittern muß.

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Textübernahmen aus den Arbeitsrechtsfolgen von Hans Gottlob Rühle:
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Stichwort-Überblick über die Arbeitsrechts-Folgen:

Abmahnung, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Arbeitszeugnis, Assessment-Center, Ausgleichsquittung, Beendigungsvergleich, Befristungsrecht, Berufsschulunterricht, Betriebliche Altersversorgung (Entgeltumwandlung, “Riester-Rente”), Betriebliche Mitarbeiterkontrollen, Betriebsausflug, Bewerbungsgespräch, Bewerbungskosten, Bewerbungsurlaub, Dumpinglöhne/Lohnwucher, Ein-Euro-Job, Einstellungsuntersuchung, Elternzeitgesetz, Ethik-Regeln, Erziehungsurlaub/-geld, Gebetspausen, Gehaltsüberzahlung, Geldbußen-Erstattung, Gentest, Gleichbehandlung: (Bewerberauswahl, Gewerbeordnung (neue Regelung), Lohn, Nichteheliche Lebensverhältnisse, Stellenausschreibung), Hartz IV, Kündigung: (Kündigung - was tun? Alkoholmißbrauch, Unzeit, Kleinbetriebe, Kopftuchtragen, Privattelefonate/SMS, Internetnutzung, Schlechtleistung, Schriftform, Sittenwidrige Vergütung, Sperrzeitprobleme, Wiedereinstellungsanspruch, Diebstahl, Schwangerschaft), Kündigungsrecht 2004 (Neuer Abfindungsanspruch, Sozialauswahl, Klagefrist), Lohngrundsätze, Mobbing, Nebentätigkeitsverbot, Psychologisches Gutachten, Rauchverbot/Nichtraucherschutz, Sperrzeit, Teilzeitarbeit (TzBfG), Schwerbehindertenschutz, Videoüberwachung, Weihnachtsgeld (Rückzahlungspflicht)
  

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Arbeitsrecht
von H.G. Rühle

Übersicht über alle bisher erschienenen Folgen:
Folge 1 - 100
Folge 101 - 200
Folge 201 - 300
Folge 301 ff.

 

Folgenübersicht:

1 - 12:
Freie Bewerberauswahl?
Einstellungsuntersuchung Erkundigungen Bewerbungsurlaub
Bewerbungskosten
Zulässige/unzul. Fragen i. Vorstellungsgespräch

13 - 24:
Psych. Gutachten
Gentest
Assessment Center
Neues Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)

25 - 36:
Forts. Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)
Neues im Erziehungsrecht

37 - 48:
Berufsschule/Freistellung
Dumpinglöhne
Kündigung/soz. Aspekte
Mobbing

49 - 60:
Das Arbeitszeugnis
Zeugnisgrundsätze
Zeugnissprache
Zeugnisbenotung
Zeugnisformulierung

61 - 72:
Kündigung/Kopftuchtragen
Blutuntersuchungen

73 - 84:
Abmahnung
Andere Sanktionen

85 - 96:
Betriebl. Altersversorgung
Betriebsrente
“Riester-Rente”
Entgeltumwandlung

97 - 108:
Forts. “Riester-Rente”
Weihnachtsgratifikation
Kündigung/Schwangersch.
Gebetspausen
Krankheitsvertretung

109 - 120:
Lohngrundsätze I-V
Nebentätigkeitsverbot
Mobbing I-VI

121 - 132:
Kündigung - was tun?
Checkliste

133 - 144:
Kündigung - was tun?
Soll ich klagen?
Wer kann mich beraten?
Wie soll ich klagen?

145 - 156:
Neues Kündigungsrecht 2004

157 - 168:
Neues Kündigungsrecht
Sozialauswahl
Klagefrist
Neuregelung TzBfG

169 - 180:
Hartz IV
Ein-Euro-Job

181-192:
Ein-Euro-Job Forts.
Ausgleichsquittung /
unzulässiger Lohnverzicht

193 - 204:
Betriebsausflug
Elternzeit
Betriebsübergang

205 - 216:
Betriebliche Mitarbeiterkontrollen
Videoüberwachung
Schwerbehindertenschutz

217 - 228:
Neue Gewerbeordnung
Gebetspausen

228 - 240:
Neue Sperrzeitprobleme
Beendigungsvergleich

241 - 252
Ethik-Regeln I-XII

253 - 264
Hitzeregelungen
Internetnutzung (Kündigung)

265 - 276
Nebentätigkeiten
Arbeit auf Abruf

277 - 288
Arbeitslosengeld - Sperrfrist
Neues Elternzeitgesetz / Elterngeld

289 - 300
Arbeitsrechtliche Schwellenwerte
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

301 - 312
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

313 - 323
Sittenwidrige Vergütung

324 - 335
Schutz der behinderten Menschen

336 - 347
Schutz der behinderten Menschen
Annahmeverzug