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Arbeitsrecht von Hans Gottlob Rühle

 

Hans Gottlob RühleHans Gottlob Rühle,
Richter am Arbeitsgericht Gießen,
Direktor des Arbeitsgerichts Marburg a.D.,
gibt Praxistips rund um das Thema Bewerbung und Arbeitsrecht.

 

Folge 338: Schutz der schwerbehinderten Menschen VIII

Frage:

    Gibt es denn eine Möglichkeit, schwerbehinderte Menschen schon im Vorfeld zu schützen, indem ihre Eingliederung in den Arbeitsprozeß und ihr Einsatz im Betrieb vorweg durch die Fachleute des Betriebs geregelt werden? Wenn ich in erheblichem Maße krank bin und mit einer krankheitsbedingten Kündigung zu rechnen habe, wäre es sinnvoll, wenn zwischen Arbeitgeber, dem Betriebsrat und mir versucht würde, mir einen leidensgerechten Arbeitsplatz zu verschaffen und meinen Einsatz entsprechend meiner gesundheitlichen Gegebenheiten durchzuführen. Davon würden sowohl der Arbeitgeber wie der kranke Arbeitnehmer profitieren. Welche Möglichkeiten dafür gibt es?

Der Fall:

    Der Arbeitgeber Dag Hammerskjöld wird durch den alten Vorsitzenden der Schwerbehindertenvertretung Henry Ford und durch den Betriebsratsvorsitzenden Ernst Reuter am laufenden Band gedrängt, für die schwerbehinderten Mitarbeiter im Vorfeld Regelungen zu treffen, insbesondere ihren Arbeitseinsatz zu erleichtern. Der gealterte Henry Ford ist besonders hartnäckig.
    Die Mitarbeiterin Emily Brontë ist schon lange in erheblichem Umfange krank. Als ihr der Arbeitgeber Dag Hammerskjöld eine krankheitsbedingte Kündigung wegen der häufigen Fehlzeiten überreichte, bemängelte sie sofort, daß Arbeitgeber Hammerskjöld ihr trotz entsprechender Bemühungen nie entgegen gekommen sei, um ihren Arbeitseinsatz entsprechend ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu regulieren. Sie hält die krankheitsbedingte Kündigung schon deshalb für unwirksam, weil Hammerskjöld gegenüber allen Bemühungen ihrer Seite „stur wie ein Panzer“ gewesen sein.

Die Lösung

1. Prävention

    In § 84 Abs. 1 SGB IX verlangt der Gesetzgeber, daß der Arbeitgeber bei Eintreten von Schwierigkeiten in Arbeitsverhältnissen von schwerbehinderten Menschen möglichst frühzeitig die Schwerbehindertenvertretung und den Betriebsrat/Personalrat sowie das Integrationsamt einzuschalten hat. Dies gilt sowohl bei Eintreten von Schwierigkeiten personenbedingter Art, z.B. wegen Krankheiten und häufigen Krankheitszeiten. Dies gilt aber auch bei Schwierigkeiten verhaltensbedingter Art, wenn der schwerbehinderte Mitarbeiter nach Ansicht des Arbeitgebers seiner Arbeitspflicht nicht oder nicht ausreichend nachkommt.
    Dies gilt schließlich aber auch bei betriebsbedingten Problemen, wenn z.B. Arbeitsplätze von schwerbehinderten Menschen aus betriebsbedingten Gründen gefährdet sind oder wenn aus betrieblichen Gründen Umsetzungen, Versetzungen etc. vorzunehmen sind.
    Die Pflicht zur Einschaltung der Schwerbehindertenvertretung/des Betriebsrats/des Personalrats/des Integrationsamtes besteht immer dann, wenn die Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis zur Gefährdung des Arbeitsverhältnisses oder des Arbeitsplatzes führen können.
    Der Gesetzgeber möchte, daß in diesen Fällen möglichst frühzeitig und präventiv zusammen mit den entsprechenden Fachleuten verhandelt wird, um einer Gefährdung oder dem Verlust des Arbeitsplatzes vorzubeugen.
    Bei diesen Verhandlungen müssen alle zur Hilfe stehenden Mittel, Beratungen und finanziellen Leistungen erörtert werden, mit denen die Schwierigkeiten beseitigt werden können. Das Ziel der Verhandlungen muß nach dem Willen des Gesetzgebers sein, das Arbeitsverhältnis möglichst dauerhaft fortzusetzen.

2. Kündigung

    Kündigt der Arbeitgeber die Mitarbeiterin Emily Brontë krankheitsbedingt, ohne vorher präventiv im Sinne des § 84 Abs. 1 SGB IX geworden zu sein, so führt dies nicht automatisch zur Unwirksamkeit der Kündigung. Die Durchführung der Präventivmaßnahmen ist nicht zwingende Wirksamkeitsvoraussetzung für eine Kündigung. Das hat das Bundesarbeitsgericht entschieden.
    Andererseits aber führt das Unterlassen der Präventivmaßnahmen dazu, daß die krankheitsbedingte Kündigung vom Arbeitsgericht im Rahmen der sozialen Rechtfertigung in besonderer Weise geprüft wird. Das Unterlassen der Präventivmaßnahmen kann in vielen Fällen zur Unwirksamkeit der Kündigung führen, weil die Durchführung der Präventivmaßnahme vielleicht das Arbeitsverhältnis gerettet hätte, wenn auch vielleicht mit veränderten Bedingungen.
    Nur dann, wenn feststeht, daß auch Präventivmaßnahmen letztendlich keinen Erfolg gezeitigt hätten, wäre die ausgesprochene krankheitsbedingte Kündigung der Emily Brontë rechtswirksam.

3. Leidensgerechter Arbeitsplatz

    Die Rechtsprechung fordert vom Arbeitgeber bei schwerbehinderten oder kranken Mitarbeitern insbesondere den Versuch, für diese Mitarbeiter einen „leidensgerechten Arbeitsplatz“ einzurichten.
    Dies bedeutet, daß der Arbeitgeber versuchen muß, Arbeitnehmer entsprechend ihren gesundheitlichen Beeinträchtigungen bzw. ihrer Schwerbehinderung zu beschäftigen und alles zu tun, um ihnen das Arbeitsverhältnis zu erhalten, soweit es ihm organisatorisch, technisch oder wirtschaftlich zumutbar ist.
    Achtung: Je länger ein Mitarbeiter im Unternehmen beschäftigt ist, umso mehr verlangt die Rechtsprechung vom Arbeitgeber, zum Erhalt des Arbeitsplatzes beizutragen. Die Zumutbarkeitsgrenze für den Arbeitgeber steigt mit der fortschreitenden Betriebszugehörigkeit an.
    Immer dann, wenn dem Arbeitgeber die gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Mitarbeiters bekannt sind oder dann, wenn der kranke oder schwerbehinderte Mitarbeiter entsprechende Einwendungen und Vorschläge gemacht hat, wird der Arbeitgeber sich im Rahmen der krankheitsbedingten Kündigung oder auch anderer Maßnahmen vom Arbeitsgericht fragen lassen müssen, was er getan hat, ggf. weshalb er nicht entsprechend tätig geworden ist.
    Nur dann, wenn der Arbeitgeber ausreichende Bemühungen unternommen hat oder ausreichende Gründe hatte, solche Bemühungen zu unterlassen, wird der Arbeitgeber mit seinen Maßnahmen Erfolg haben können. Sonst muß der Arbeitgeber damit rechnen, daß sein Unterlassen im Zweifel ihm zur Last gelegt wird. Dies kann dazu führen, daß eine ausgesprochene krankheitsbedingte Kündigung z.B. als sozial nicht gerechtfertigt angesehen wird.

4. Betriebliches Eingliederungsmanagement

    Sind Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres mehr als 6 Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig, so muß der Arbeitgeber ein sog. „betriebliches Eingliederungsmanagement“ durchführen.
    Achtung: Dieses betriebliche Eingliederungsmanagement ist in § 83 Abs. 2 SGB IX geregelt. Dieses Eingliederungsmanagement gilt für alle Arbeitnehmer, die krank sind. Es kommt nicht darauf an, ob sie behindert oder schwerbehindert i.S. des SGB IX sind! Auch Arbeitnehmer, die bisher keinen Antrag auf Anerkennung als Schwerbehinderte gestellt haben oder nicht anerkannt worden sind, können sich auf die Pflicht zum betrieblichen Eingliederungsmanagement berufen.

5. Verfahren

    Sind Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres mehr als 6 Wochen erkrankt, so muß der Arbeitgeber mit der zuständigen Interessenvertretung, d.h. mit dem Betriebsrat/Personalrat, bei schwerbehinderten Menschen außerdem mit der Schwerbehindertenvertretung und zusammen mit dem kranken Mitarbeiter die Möglichkeiten erörtern, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden wird und welche Leistungen oder Hilfen möglich sind, um einer erneuten Arbeitsunfähigkeit vorzubeugen und um den Arbeitsplatz dem Arbeitnehmer zu erhalten.
    Soweit erforderlich, ist ein Werks- oder Betriebsarzt, ggf. auch der arbeitsmedizinische Dienst hinzuziehen.
    Der Arbeitgeber muß den betroffenen Arbeitnehmer auf die Ziele des betrieblichen Eingliederungsmanagements sowie auf Art und Umfang der dafür erhobenen Daten hinweisen. Im Zweifel muß auch das Integrationsamt eingeschaltet werden und geprüft werden, ob insoweit Hilfen und Leistungen von seiten des Integrationsamtes in Anspruch genommen werden können.
    Achtung: Die zuständigen Interessenvertretungen, also Betriebsrat/Personalrat/Schwerbehindertenvertretung können entsprechende Klärungen vom Arbeitgeber verlangen. Sie müssen darüber wachen, daß der Arbeitgeber diese Pflichten zum betrieblichen Eingliederungsmanagement auch tatsächlich erfüllt.

6. Kündigung

    Auch hier gilt, daß das betriebliche Eingliederungsmanagement nach dem Willen des Gesetzgebers letztendlich keine Wirksamkeitsvoraussetzung für eine krankheitsbedingte Kündigung darstellt. Gleichwohl hat der Arbeitgeber bei einem Unterlassen des Eingliederungsmanagements im Rahmen eines Kündigungsschutzprozesses Probleme. Er muß nämlich darlegen, daß die Krankheitskündigung unvermeidlich war und auch bei Durchführung des betrieblichen Eingliederungsmanagements ausgesprochen worden wäre.
    Dies wird in vielen Fällen nicht gelingen. Sofern sich im Prozeß ergibt, daß bei einem Eingliederungsmanagement realistisch die Aussicht bestanden hätte, die Kündigung zu vermeiden und dem Mitarbeiter den Arbeitsplatz zu erhalten, ist die Kündigung im Zweifel sozial ungerechtfertigt.
    Achtung: Die kranken Arbeitnehmer, die Interessenvertretungen der Arbeitnehmer und der Schwerbehinderten können zwar vom Arbeitgeber das betriebliche Eingliederungsmanagement nicht erzwingen. Der Arbeitgeber tut jedoch gut daran, zukünftig bei schwerbehinderten Menschen und bei kranken Mitarbeitern aller Art, dieses Eingliederungsmanagement im Betrieb durchzuführen. Unterläßt er dies, muß er damit rechnen, daß im Zweifel das Arbeitsgericht diese Unterlassung ihm zurechnet und er Probleme bei der sozialen Rechtfertigung einer Krankheitskündigung etc. bekommt. Vielen Arbeitgebern ist das betriebliche Eingliederungsmanagement bislang mehr oder weniger unbekannt! Dies muß sich ändern.
    Verlieren Arbeitgeber Kündigungsschutzprozesse, so ist oft „der Gesetzgeber“ oder „das Gericht“ schuld. Tatsächlich aber ist immer wieder festzustellen, daß durch schlechte Vorbereitung und durch Unterlassungen die Niederlage im Prozeß von Arbeitgeberseite geradezu herbeigeführt wird. Deshalb macht es für den Arbeitgeber einen guten Sinn, das betriebliche Eingliederungsmanagement Ernst zu nehmen und im Zweifel mit den zuständigen Gremien und den betroffenen Mitarbeitern alles Zumutbare zu unternehmen, um die Arbeitsplätze zu erhalten.

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Stichwort-Überblick über die Arbeitsrechts-Folgen:

Abmahnung, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Arbeitszeugnis, Assessment-Center, Ausgleichsquittung, Beendigungsvergleich, Befristungsrecht, Berufsschulunterricht, Betriebliche Altersversorgung (Entgeltumwandlung, “Riester-Rente”), Betriebliche Mitarbeiterkontrollen, Betriebsausflug, Bewerbungsgespräch, Bewerbungskosten, Bewerbungsurlaub, Dumpinglöhne/Lohnwucher, Ein-Euro-Job, Einstellungsuntersuchung, Elternzeitgesetz, Ethik-Regeln, Erziehungsurlaub/-geld, Gebetspausen, Gehaltsüberzahlung, Geldbußen-Erstattung, Gentest, Gleichbehandlung: (Bewerberauswahl, Gewerbeordnung (neue Regelung), Lohn, Nichteheliche Lebensverhältnisse, Stellenausschreibung), Hartz IV, Kündigung: (Kündigung - was tun? Alkoholmißbrauch, Unzeit, Kleinbetriebe, Kopftuchtragen, Privattelefonate/SMS, Internetnutzung, Schlechtleistung, Schriftform, Sittenwidrige Vergütung, Sperrzeitprobleme, Wiedereinstellungsanspruch, Diebstahl, Schwangerschaft), Kündigungsrecht 2004 (Neuer Abfindungsanspruch, Sozialauswahl, Klagefrist), Lohngrundsätze, Mobbing, Nebentätigkeitsverbot, Psychologisches Gutachten, Rauchverbot/Nichtraucherschutz, Sperrzeit, Teilzeitarbeit (TzBfG), Schwerbehindertenschutz, Videoüberwachung, Weihnachtsgeld (Rückzahlungspflicht)
  

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Arbeitsrecht
von H.G. Rühle

Übersicht über alle bisher erschienenen Folgen:
Folge 1 - 100
Folge 101 - 200
Folge 201 - 300
Folge 301 ff.

 

Folgenübersicht:

1 - 12:
Freie Bewerberauswahl?
Einstellungsuntersuchung Erkundigungen Bewerbungsurlaub
Bewerbungskosten
Zulässige/unzul. Fragen i. Vorstellungsgespräch

13 - 24:
Psych. Gutachten
Gentest
Assessment Center
Neues Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)

25 - 36:
Forts. Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)
Neues im Erziehungsrecht

37 - 48:
Berufsschule/Freistellung
Dumpinglöhne
Kündigung/soz. Aspekte
Mobbing

49 - 60:
Das Arbeitszeugnis
Zeugnisgrundsätze
Zeugnissprache
Zeugnisbenotung
Zeugnisformulierung

61 - 72:
Kündigung/Kopftuchtragen
Blutuntersuchungen

73 - 84:
Abmahnung
Andere Sanktionen

85 - 96:
Betriebl. Altersversorgung
Betriebsrente
“Riester-Rente”
Entgeltumwandlung

97 - 108:
Forts. “Riester-Rente”
Weihnachtsgratifikation
Kündigung/Schwangersch.
Gebetspausen
Krankheitsvertretung

109 - 120:
Lohngrundsätze I-V
Nebentätigkeitsverbot
Mobbing I-VI

121 - 132:
Kündigung - was tun?
Checkliste

133 - 144:
Kündigung - was tun?
Soll ich klagen?
Wer kann mich beraten?
Wie soll ich klagen?

145 - 156:
Neues Kündigungsrecht 2004

157 - 168:
Neues Kündigungsrecht
Sozialauswahl
Klagefrist
Neuregelung TzBfG

169 - 180:
Hartz IV
Ein-Euro-Job

181-192:
Ein-Euro-Job Forts.
Ausgleichsquittung /
unzulässiger Lohnverzicht

193 - 204:
Betriebsausflug
Elternzeit
Betriebsübergang

205 - 216:
Betriebliche Mitarbeiterkontrollen
Videoüberwachung
Schwerbehindertenschutz

217 - 228:
Neue Gewerbeordnung
Gebetspausen

228 - 240:
Neue Sperrzeitprobleme
Beendigungsvergleich

241 - 252
Ethik-Regeln I-XII

253 - 264
Hitzeregelungen
Internetnutzung (Kündigung)

265 - 276
Nebentätigkeiten
Arbeit auf Abruf

277 - 288
Arbeitslosengeld - Sperrfrist
Neues Elternzeitgesetz / Elterngeld

289 - 300
Arbeitsrechtliche Schwellenwerte
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

301 - 312
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

313 - 323
Sittenwidrige Vergütung

324 - 335
Schutz der behinderten Menschen

336 - 347
Schutz der behinderten Menschen
Annahmeverzug