Hans-Gottlob-Ruehle.de
Arbeitsrecht von Hans Gottlob Rühle

 

Hans Gottlob RühleHans Gottlob Rühle,
Richter am Arbeitsgericht Gießen,
Direktor des Arbeitsgerichts Marburg a.D.,
gibt Praxistips rund um das Thema Bewerbung und Arbeitsrecht.

 

Folge 111: Lohngrundsätze III - Tarifverträge

Der Fall:

    Arbeitgeber Gottfried Herder betreibt ein Einzelhandelsunternehmen mit mehreren Filialen. Der Filialleiter Goethe leitet die Filiale Weimar mit 15 Angestellten. Filialleiter Schiller in Jena hat 12 Angestellte. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden die Tarifverträge des Einzelhandels Anwendung.
    Wegen der konsumschwachen Weimaraner muß Herder die Filiale Weimar verkleinern. Es erfolgt dadurch eine Personalreduzierung auf zukünftig 7 Mitarbeiter. In Jena dagegen boomt dank Cleverle Späth die Wirtschaft und der Konsum. Die Filiale Jena wird noch vergrößert.
    Wegen der Verkleinerung der Filiale Weimar kürzt Arbeitgeber Herder das Gehalt von Goethe um 700 Euro brutto monatlich. Als die fürsorgliche Frau von Stein deshalb bei Herder heftig protestiert, beruft sich dieser auf den Tarifvertrag. Der sieht die Gehaltskürzung bei Filialen mit weniger als 8 Arbeitnehmern vor. Herder meint, daß eine Änderungskündigung nicht nötig sei. Goethe macht vor dem Arbeitsgericht einen Verstoß gegen Verfassung und zwingende Gesetze geltend. Außerdem sei der Gleichbehandlungsgrundsatz gegenüber Schiller verletzt.

Die Lösung:

1. Geltung der Tarifverträge

    Tarifverträge können im Arbeitsverhältnis aufgrund unterschiedlicher Rechtsregeln wirksam sein. Zum einen kann die Geltung bestimmter Tarifverträge im Arbeitsvertrag vereinbart sein.
    Zum anderen gelten Tarifverträge normativ und zwingend, d.h. wie ein Gesetz, dann, wenn der Arbeitnehmer in der zuständigen Gewerkschaft und der Arbeitgeber im zuständigen Arbeitgeberverband ist. Eine normative Wirkung der Tarifverträge liegt auch dann vor, wenn Tarifverträge durch das zuständige Ministerium für allgemeinverbindlich erklärt wurden.
    Im vorliegenden Falle fanden die Tarifverträge aufgrund der Gewerkschaftsmitgliedschaft von Goethe und Schiller (Verdi) und der Mitgliedschaft von Herder im Einzelhandelsverband zwingend normativ Anwendung (Einzelhandel).

2. Entgelttarifvertrag

    Im Gehaltstarifvertrag Einzelhandel ist für Filialleiter eine unterschiedliche Vergütungshöhe vorgesehen, je nach Größe der Beschäftigtenzahl der Filiale. Ab 8 Arbeitnehmer erhöht sich die Vergütung um monatlich 700 Euro.
    Dies Tarifnormen sind rechtlich nicht zu beanstanden. Es liegt kein Verstoß gegen höherrangiges oder zwingendes Gesetzesrecht vor.
    Die Tarifvertragsparteien haben im Rahmen der grundgesetzlichen Ordnung bei der Regelung von Arbeitsbedingungen Gestaltungsfreiheit und Spielräume, die von der Rechtsprechung zu beachten sind. Zwingende Gesetze allerdings müssen auch die Tarifvertragsparteien einhalten.
    Die Staffelung der Gehälter von Führungsangestellten nach der Zahl der Untergebenen und der Verantwortung ist sachgerecht und durch die Rechtsordnung nicht zu beanstanden. Goethe irrt insoweit.

3. Keine Änderungskündigung

    Die Absenkung der Vergütung von Goethe ist eine automatische Folge der Verkleinerung seiner Filiale in Weimar. Der Arbeitsvertrag von Goethe wie auch das zugrundeliegende Tarifvertragswerk ist durch die unternehmerische Maßnahme von Herder nicht verändert worden. Eine Änderungskündigung war deshalb nicht notwendig.
    Die Verringerung der Vergütung ist vielmehr die automatische Folge der unternehmerischen Maßnahmen von Herder. Die Absenkung des Gehalts durch Herder stellt lediglich einen Vollzug des Tarifvertrages dar.
    Es gibt keine gesetzliche Bestimmung, die für eine tarifvertraglich vorgesehene tatsächliche Änderung der Arbeitsbedingungen zwingend den Ausspruch einer Änderungskündigung im Sinne von § 2 KSchG vorschreibt. Vielmehr können nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts Tarifverträge vorsehen, daß der Arbeitgeber ohne Änderung des Arbeitsvertrages dem Arbeitnehmer andere Tätigkeiten zuweist, die eventuell sogar einer niedrigeren Vergütungsgruppe angehören. Auch eine solche tarifliche Regelung wäre mit der geltenden Rechtsordnung vereinbar und widerspricht nicht dem staatlichen Gesetzesrecht.
    Vorliegend wurde Goethe keine andere Tätigkeit zugewiesen. Seine Tätigkeit und seine grundsätzliche Verantwortung blieb. Arbeitsvertraglich schuldet Goethe dem Arbeitgeber eine Tätigkeit als Filialleiter. Im Arbeitsvertrag ist aber nicht festgelegt, daß Goethe einen Anspruch auf eine Filiale mit regelmäßig mehr als 8 unterstellten Vollzeitbeschäftigten und damit auf eine bestimmte Vergütung besitzt.
    Da ein solcher Anspruch auf eine bestimmte Beschäftigtenzahl und damit eine entsprechende Vergütungsstaffeln nicht besteht, war eine Änderungskündigung nicht erforderlich. Der Arbeitsvertrag der Partien ist durch die Verkleinerung der Filiale nicht geändert worden.
    Achtung: Etwas anderes würde gelten, wenn die Vertragsparteien ausdrücklich eine bestimmte Mindestgröße der Filiale festgelegt hätten. Dann hätte Goethe einen vertraglichen Anspruch auf eine Mindestbeschäftigtenzahl und die erhöhte Vergütung.

4. Rechtsmißbrauch / Manipulation

    Der Einwand von Goethe, daß Herder ihn und nicht sein Lieblingskind Schiller boshaft manipuliert habe, entbehrt jeder Grundlage. Herder würde sich als Arbeitgeber selbst schaden, wenn er den Personalbestand ohne Sachgrund so massiv abbaut, nur um das Gehalt von Goethe abzusenken. Grundsätzlich muß davon ausgegangen werden, daß auch der Unternehmer Herder optimale Umsätze und entsprechende Gewinne erzielen will. Im übrigen muß sich Goethe entgegenhalten lassen, daß der Mißerfolg seiner Filiale auch von seiner Tätigkeit als Marktleiter mitbeeinflußt wurde.

5. Vertrauenstatbestand / Gleichbehandlung / Besitzstand?

    Einen Vertrauenstatbestand von Arbeitnehmern auf eine bestimmte überdurchschnittliche Gehaltshöhe etc. gibt es nicht. Auch wenn die Filiale Weimar lange Zeit 15 Arbeitnehmer hatte, kann Goethe nicht darauf bestehen, daß dies bleibt.
    Sieht der Tarifvertrag gestaffelte vor, so gibt es insoweit keinen Vertrauenstatbestand dahin, daß stets die höhere Staffel für den Arbeitnehmer im Wege der Besitzstandswahrung garantiert ist.
    Auch der Hinweis auf den Gleichbehandlungsgrundsatz geht fehl. Nur Gleiches muß gleich behandelt werden. Die Filiale Jena läuft, vielleicht auch aufgrund des Einsatzes von Schiller, besser. Da Schiller für die doppelte Arbeitnehmeranzahl die Verantwortung trägt, ist sein höheres Gehalt auch sachlich gerechtfertigt.
    Ergebnis: Goethe ist wieder einmal der Verlierer.

>> Nächste Folge: Lohngrundsätze IV - Arbeitszeitkonto
<< Zurück zur Übersicht

 

Textübernahmen aus den Arbeitsrechtsfolgen von Hans Gottlob Rühle:
Reine
Linkverweise ohne Einschränkung/Begrenzung. Bitte kopieren Sie dazu die URL aus der Browserzeile.
Wörtliche Textzitate: Ohne Rücksprache bis 2 Absätze aus bis zu 10 Folgen jew. mit Linkverweis. Weitergehende Textübernahmen nur mit schriftlicher Genehmigung.
Wichtiger Hinweis: Bitte keine e-mails mit konkreten Rechtsfragen einsenden, da diese nicht beantwortet werden können.
 

Stichwort-Überblick über die Arbeitsrechts-Folgen:

Abmahnung, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Arbeitszeugnis, Assessment-Center, Ausgleichsquittung, Beendigungsvergleich, Befristungsrecht, Berufsschulunterricht, Betriebliche Altersversorgung (Entgeltumwandlung, “Riester-Rente”), Betriebliche Mitarbeiterkontrollen, Betriebsausflug, Bewerbungsgespräch, Bewerbungskosten, Bewerbungsurlaub, Dumpinglöhne/Lohnwucher, Ein-Euro-Job, Einstellungsuntersuchung, Elternzeitgesetz, Ethik-Regeln, Erziehungsurlaub/-geld, Gebetspausen, Gehaltsüberzahlung, Geldbußen-Erstattung, Gentest, Gleichbehandlung: (Bewerberauswahl, Gewerbeordnung (neue Regelung), Lohn, Nichteheliche Lebensverhältnisse, Stellenausschreibung), Hartz IV, Kündigung: (Kündigung - was tun? Alkoholmißbrauch, Unzeit, Kleinbetriebe, Kopftuchtragen, Privattelefonate/SMS, Internetnutzung, Schlechtleistung, Schriftform, Sittenwidrige Vergütung, Sperrzeitprobleme, Wiedereinstellungsanspruch, Diebstahl, Schwangerschaft), Kündigungsrecht 2004 (Neuer Abfindungsanspruch, Sozialauswahl, Klagefrist), Lohngrundsätze, Mobbing, Nebentätigkeitsverbot, Psychologisches Gutachten, Rauchverbot/Nichtraucherschutz, Sperrzeit, Teilzeitarbeit (TzBfG), Schwerbehindertenschutz, Videoüberwachung, Weihnachtsgeld (Rückzahlungspflicht)
  

STARTSEITE >>

Arbeitsrecht
von H.G. Rühle

Übersicht über alle bisher erschienenen Folgen:
Folge 1 - 100
Folge 101 - 200
Folge 201 - 300
Folge 301 ff.

 

Folgenübersicht:

1 - 12:
Freie Bewerberauswahl?
Einstellungsuntersuchung Erkundigungen Bewerbungsurlaub
Bewerbungskosten
Zulässige/unzul. Fragen i. Vorstellungsgespräch

13 - 24:
Psych. Gutachten
Gentest
Assessment Center
Neues Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)

25 - 36:
Forts. Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)
Neues im Erziehungsrecht

37 - 48:
Berufsschule/Freistellung
Dumpinglöhne
Kündigung/soz. Aspekte
Mobbing

49 - 60:
Das Arbeitszeugnis
Zeugnisgrundsätze
Zeugnissprache
Zeugnisbenotung
Zeugnisformulierung

61 - 72:
Kündigung/Kopftuchtragen
Blutuntersuchungen

73 - 84:
Abmahnung
Andere Sanktionen

85 - 96:
Betriebl. Altersversorgung
Betriebsrente
“Riester-Rente”
Entgeltumwandlung

97 - 108:
Forts. “Riester-Rente”
Weihnachtsgratifikation
Kündigung/Schwangersch.
Gebetspausen
Krankheitsvertretung

109 - 120:
Lohngrundsätze I-V
Nebentätigkeitsverbot
Mobbing I-VI

121 - 132:
Kündigung - was tun?
Checkliste

133 - 144:
Kündigung - was tun?
Soll ich klagen?
Wer kann mich beraten?
Wie soll ich klagen?

145 - 156:
Neues Kündigungsrecht 2004

157 - 168:
Neues Kündigungsrecht
Sozialauswahl
Klagefrist
Neuregelung TzBfG

169 - 180:
Hartz IV
Ein-Euro-Job

181-192:
Ein-Euro-Job Forts.
Ausgleichsquittung /
unzulässiger Lohnverzicht

193 - 204:
Betriebsausflug
Elternzeit
Betriebsübergang

205 - 216:
Betriebliche Mitarbeiterkontrollen
Videoüberwachung
Schwerbehindertenschutz

217 - 228:
Neue Gewerbeordnung
Gebetspausen

228 - 240:
Neue Sperrzeitprobleme
Beendigungsvergleich

241 - 252
Ethik-Regeln I-XII

253 - 264
Hitzeregelungen
Internetnutzung (Kündigung)

265 - 276
Nebentätigkeiten
Arbeit auf Abruf

277 - 288
Arbeitslosengeld - Sperrfrist
Neues Elternzeitgesetz / Elterngeld

289 - 300
Arbeitsrechtliche Schwellenwerte
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

301 - 312
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

313 - 323
Sittenwidrige Vergütung

324 - 335
Schutz der behinderten Menschen

336 - 347
Schutz der behinderten Menschen
Annahmeverzug