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Arbeitsrecht von Hans Gottlob Rühle

 

Hans Gottlob RühleHans Gottlob Rühle,
Richter am Arbeitsgericht Gießen,
Direktor des Arbeitsgerichts Marburg a.D.,
gibt Praxistips rund um das Thema Bewerbung und Arbeitsrecht.

 

Folge 274: Arbeit auf Abruf I

Der Fall:

    Arbeitgeber Marcello Mastroianni stellt Fischkonserven her. Er ist vor allem in der Sardinenverarbeitung tätig. Da die Fangergebnisse sehr schwankend sind, möchte er bei seinen Fabrikarbeitern möglichst flexible Arbeitszeiten erreichen.
    Er stellt die arbeitslose Lucretia Borgia mit folgendem Vertrag ein: Feste Wochenarbeitszeit 30 Stunden, darüber hinaus ist Lucretia verpflichtet, je nach Sardinenanfall auf Aufforderung auch länger als 40 Wochenstunden zu arbeiten, neben Samstagen bei Erforderlichkeit auch an Sonn- und Feiertagen. Die freizeitliebende Lucretia ist damit eigentlich überhaupt nicht einverstanden. Um der Arbeitslosigkeit zu entfliehen, unterschreibt sie. Sie behält sich insgeheim aber eine rechtliche Überprüfung des Vertrags vor.
    Sardinenfilettierer Jakob Tintoretto ist laut Vertrag auch zuständig für die künstlerische Gestaltung der Fischkonservendosen. Nach dem Arbeitsvertrag hat er eine feste Wochenarbeitszeit von 38 Stunden, allerdings ist er vertraglich zur Ableistung von 6 Überstunden/Woche verpflichtet, wenn die betrieblichen Belange es erfordern, insbesondere wenn überraschend ein neues Fischdosendesign vom Kunden verlangt wird.
    Betriebsrat Horatio Nelson ist wegen seines Mitbestimmungsrechtes überfordert. Wurden mit den Arbeitnehmern Überstunden vereinbart? Was ist Abrufarbeit? Wo besteht ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats?

Die Lösung

1. Mehrarbeit

    Nach gängiger Definition liegt Mehrarbeit nur dann vor, wenn ein Arbeitnehmer auf Veranlassung des Arbeitgebers oder mit dessen Duldung die gesetzlich vorgesehene und zulässige Höchstarbeitszeit überschreitet.
    § 3 Arbeitszeitgesetz regelt, daß die werktägliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer 8 Stunden nicht überschreiten darf. Da der Gesetzgeber von einer 6-Tage-Woche ausging (Werktage), handelt es sich gesetzlich um eine 48-Stunden-Woche.
    Diese Höchstarbeitszeit darf ausnahmsweise auf bis zu 10 Stunden pro Werktag verlängert werden (60 Stunden pro Woche), wenn innerhalb von 6 Kalendermonaten oder innerhalb von 24 Wochen im Durchschnitt werktäglich 8 Stunden bzw. 48 Stunden pro Woche nicht überschritten werden.
    Dabei ist generell eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens 11 Stunden zwischen den Arbeitsschichten zu gewährleisten, § 5 AzG.
    Sofern nach § 14 Arbeitszeitgesetz in ganz bestimmten Ausnahmefällen diese Höchstarbeitszeit überschritten werden darf, spricht man von Mehrarbeit.
    Achtung: Für diese Mehrarbeit gibt es nach den Bestimmungen des Arbeitszeitgesetzes keine Mehrarbeit-Zuschläge!

2. Zusatzarbeit

    Von Zusatzarbeit wird im allgemeinen dann gesprochen, wenn Teilzeitbeschäftigte über ihre vertraglich vereinbarte, individuelle Arbeitszeit hinaus zusätzlich Stunden ableisten bis zur Höhe der betriebsüblichen Wochenarbeitszeit bzw. der tariflichen Wochenarbeitszeit.
    Achtung: Auch für diese Zeit über die vereinbarte Teilzeit hinaus bis zur Höhe der betrieblichen Wochenarbeitszeit besteht kein Anspruch auf Zahlung einer Zulage bzw. von Überstundenprozenten, sofern dies nicht arbeitsvertraglich vereinbart worden ist.

3. Überstunden

    Von Überstunden wird gesprochen, wenn ein Arbeitnehmer freiwillig oder aufgrund vertraglicher Verpflichtung über die tarifliche oder betriebsübliche Wochenarbeitszeit hinaus zusätzlich arbeitet.
    Achtung: Ein Überstunden-Zuschlag (z.B. 25 %) zum Lohn ist nur dann vom Arbeitgeber zu leisten, wenn ein solcher Zuschlag im Tarifvertrag vereinbart ist und der Tarifvertrag aufgrund Organisationszugehörigkeit oder Arbeitsvertrages auf das Arbeitsverhältnis Anwendung findet oder der Arbeitgeber generell einen solchen Zuschlag freiwillig oder aufgrund arbeitsvertraglicher Vereinbarung zahlt.
    Überstunden werden kraft Definition aufgrund besonderer, unvorhergesehener Umstände vorübergehend geleistet. Eine Vereinbarung zur Leistung von Überstunden liegt vor, wenn der Arbeitnehmer sich verpflicht, aufgrund eines solchen vorübergehenden zusätzlichen Arbeitsbedarfes länger als vertraglich vereinbart zu arbeiten. Ein Vollzeit-Arbeitnehmer ist generell vertraglich zur Arbeitsleistung zumutbarer Überstunden verpflichtet.
    Aus diesem Grunde enthält der Arbeitsvertrag des Sardinenfilettierers Tintoretto eine Überstundenvereinbarung. Bei betrieblicher Notwendigkeiten ist er zur Ableistung von Überstunden verpflichtet.

4. Arbeit auf Abruf

    Die Arbeit auf Abruf ist in § 12 Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG) geregelt. Danach können Arbeitgeber und Arbeitnehmer vereinbaren, daß der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung entsprechend dem Arbeitsanfall variabel zu erbringen hat. Allerdings muß die Vereinbarung eine bestimmte Mindest-Dauer der wöchentlichen und der täglichen Arbeitszeit festlegen.
    Zwischen Arbeitgeber Mastroianni und Arbeitnehmerin Lucretia Borgia ist ein solches Abruf-Arbeitsverhältnis vereinbart worden.
    Das Abruf-Arbeitsverhältnis hat auch noch andere Bezeichnungen, nämlich:
    - flexible Arbeitszeit oder
    - kapazitätsorientierte variable Arbeitszeit (KAPOVAZ).
    Die variable Arbeitszeit von Borgia ergibt sich daraus, daß sie eine feste Grundarbeitszeit von 30 Stunden/Woche hat. Darüber hinaus ist sie flexibel, d.h. „je nach Arbeitsanfall“ weiter einsetzbar. Der variable Arbeitseinsatz richtet sich nach dem jeweils veränderten Arbeitsbedarf aufgrund des Fischfangs. Es ging Arbeitgeber Mastroianni darum, einen zwar vorhersehbaren, jedoch stets schwankenden Personalbedarf bei der Fischverarbeitung zu decken.

5. Mitbestimmung

    Nach § 87 Abs. 1 Ziff. 2 Betriebsverfassungsgesetz hat der Betriebsrat bei Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit einschließlich der Pausen mitzubestimmen, sowie bei der Verteilung der Arbeitszeit auf die einzelnen Wochentage. Dies betrifft die Mitbestimmung bei der Festlegung der regulären täglichen Arbeitszeit.
    Darüber hinaus bestimmt der Betriebsrat nach § 87 Abs. 1 Ziff. 3 Betriebsverfassungsgesetz mit bei der „vorübergehenden Verkürzung oder Verlängerung der betrieblichen Arbeitszeit“. Dies bedeutet, daß der Betriebsrat Horatio Nelson bei allen Veränderungen der betriebsüblichen Arbeitszeit mitzubestimmen hat, die durch betriebliche Umstände veranlaßt sind. Die Mitbestimmung nach Ziff. 3 betrifft deshalb in erster Linie die Frage der Überstunden. Sie betrifft aber auch die Ausgestaltung der Arbeit auf Abruf, d.h. der flexiblen, variablen Arbeitszeit.
    Im Ergebnis bedeutet dies, daß Arbeitgeber Marcello Mastroianni stets vor dem betriebsbedingten flexiblen Einsatz der Mitarbeiter den Betriebsrat Nelson anhören und dessen Zustimmung einholen muß. Das Verfahren läßt sich dadurch vereinfachen, daß für Eilfälle und andere Einsätze eine Regelung in einer Betriebsvereinbarung getroffen wird.

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Textübernahmen aus den Arbeitsrechtsfolgen von Hans Gottlob Rühle:
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Stichwort-Überblick über die Arbeitsrechts-Folgen:

Abmahnung, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Arbeitszeugnis, Assessment-Center, Ausgleichsquittung, Beendigungsvergleich, Befristungsrecht, Berufsschulunterricht, Betriebliche Altersversorgung (Entgeltumwandlung, “Riester-Rente”), Betriebliche Mitarbeiterkontrollen, Betriebsausflug, Bewerbungsgespräch, Bewerbungskosten, Bewerbungsurlaub, Dumpinglöhne/Lohnwucher, Ein-Euro-Job, Einstellungsuntersuchung, Elternzeitgesetz, Ethik-Regeln, Erziehungsurlaub/-geld, Gebetspausen, Gehaltsüberzahlung, Geldbußen-Erstattung, Gentest, Gleichbehandlung: (Bewerberauswahl, Gewerbeordnung (neue Regelung), Lohn, Nichteheliche Lebensverhältnisse, Stellenausschreibung), Hartz IV, Kündigung: (Kündigung - was tun? Alkoholmißbrauch, Unzeit, Kleinbetriebe, Kopftuchtragen, Privattelefonate/SMS, Internetnutzung, Schlechtleistung, Schriftform, Sittenwidrige Vergütung, Sperrzeitprobleme, Wiedereinstellungsanspruch, Diebstahl, Schwangerschaft), Kündigungsrecht 2004 (Neuer Abfindungsanspruch, Sozialauswahl, Klagefrist), Lohngrundsätze, Mobbing, Nebentätigkeitsverbot, Psychologisches Gutachten, Rauchverbot/Nichtraucherschutz, Sperrzeit, Teilzeitarbeit (TzBfG), Schwerbehindertenschutz, Videoüberwachung, Weihnachtsgeld (Rückzahlungspflicht)
  

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Arbeitsrecht
von H.G. Rühle

Übersicht über alle bisher erschienenen Folgen:
Folge 1 - 100
Folge 101 - 200
Folge 201 - 300
Folge 301 ff.

 

Folgenübersicht:

1 - 12:
Freie Bewerberauswahl?
Einstellungsuntersuchung Erkundigungen Bewerbungsurlaub
Bewerbungskosten
Zulässige/unzul. Fragen i. Vorstellungsgespräch

13 - 24:
Psych. Gutachten
Gentest
Assessment Center
Neues Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)

25 - 36:
Forts. Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)
Neues im Erziehungsrecht

37 - 48:
Berufsschule/Freistellung
Dumpinglöhne
Kündigung/soz. Aspekte
Mobbing

49 - 60:
Das Arbeitszeugnis
Zeugnisgrundsätze
Zeugnissprache
Zeugnisbenotung
Zeugnisformulierung

61 - 72:
Kündigung/Kopftuchtragen
Blutuntersuchungen

73 - 84:
Abmahnung
Andere Sanktionen

85 - 96:
Betriebl. Altersversorgung
Betriebsrente
“Riester-Rente”
Entgeltumwandlung

97 - 108:
Forts. “Riester-Rente”
Weihnachtsgratifikation
Kündigung/Schwangersch.
Gebetspausen
Krankheitsvertretung

109 - 120:
Lohngrundsätze I-V
Nebentätigkeitsverbot
Mobbing I-VI

121 - 132:
Kündigung - was tun?
Checkliste

133 - 144:
Kündigung - was tun?
Soll ich klagen?
Wer kann mich beraten?
Wie soll ich klagen?

145 - 156:
Neues Kündigungsrecht 2004

157 - 168:
Neues Kündigungsrecht
Sozialauswahl
Klagefrist
Neuregelung TzBfG

169 - 180:
Hartz IV
Ein-Euro-Job

181-192:
Ein-Euro-Job Forts.
Ausgleichsquittung /
unzulässiger Lohnverzicht

193 - 204:
Betriebsausflug
Elternzeit
Betriebsübergang

205 - 216:
Betriebliche Mitarbeiterkontrollen
Videoüberwachung
Schwerbehindertenschutz

217 - 228:
Neue Gewerbeordnung
Gebetspausen

228 - 240:
Neue Sperrzeitprobleme
Beendigungsvergleich

241 - 252
Ethik-Regeln I-XII

253 - 264
Hitzeregelungen
Internetnutzung (Kündigung)

265 - 276
Nebentätigkeiten
Arbeit auf Abruf

277 - 288
Arbeitslosengeld - Sperrfrist
Neues Elternzeitgesetz / Elterngeld

289 - 300
Arbeitsrechtliche Schwellenwerte
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

301 - 312
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

313 - 323
Sittenwidrige Vergütung

324 - 335
Schutz der behinderten Menschen

336 - 347
Schutz der behinderten Menschen
Annahmeverzug